«Ich bin stets gerne zur Leichtathletik zurückgekehrt» – Interview mit Nicola Spirig
Mit Nicola Spirig (Jahrgang 1982) und Roger Federer (1981) treten zwei der Grössten ihres Fachs fast gleichzeitig ab. Wir ziehen den Hut vor dem Maestro, aber als wahrer Gentleman wird er es uns nachsehen, dass wir an dieser Stelle unsere erfolgreichste Olympionikin zu Wort kommen lassen. Umso mehr, als die Triathletin der Leichtathletik seit Nachwuchsbeinen die Treue hält.
Nicola Spirig, welche Ehrenrunde dauerte länger – die bei Weltklasse Zürich (8. September) oder jene beim Greifenseelauf (17. September)?
Definitiv die im Letzigrund. Am Schluss musste ich mich fast beeilen, um noch etwas vom Meeting zu sehen, so viele Autogramme durfte ich geben. Nein, im Ernst: Ich habe es ungemein geschätzt, eine solche Verabschiedung zu bekommen. Die Reaktionen des Publikums machten den Abend für mich sehr emotional.
Dein letztes Rennen als Spitzensportlerin hast du mit einer «offiziellen» Halbmarathon- Bestzeit gefinisht. Schneller als 1:15:14 warst du erst einmal – auf der ersten Streckenhälfte (1:13:25) des EM-Marathons 2014. Der perfekte Abschluss?
Ja, die 21,1 Kilometer gingen eindeutig schneller vorbei als die 400 Meter im Letzi. Ich sagte mir: Wenn ich ein letztes Mal an der Startlinie stehe, dann mochte ich auch mein Bestes geben. Gleichzeitig wollte ich meine Dernière bewusst geniessen. Ein paar High Fives sollten also drin liegen. Dank den Tafeln mit Highlights zu meiner Karriere, die ich zugegebenermassen erst nach sechs Kilometern am Streckenrand wahrgenommen hatte, wurde ich unterwegs immer wieder von Neuem überrascht und motiviert. Ob als Erste oder Zweite im Ziel, war für mich dann völlig sekundär.
Noch etwas entspannter gestaltete sich wahrscheinlich der Zoo Run, den du im Rahmen der Weltklasse Zürich Pop-Ups mit deiner Familie bestritten hast.
Na ja, den habe ich trotz Startnummer nicht als Wettkampf betrachtet. Ich joggte eine Runde mit unserem Kleinsten (Alexis). Wir hielten bei den Erdmännchen an, bei den Seehunden, bei den Yaks. Die Idee, den Zoo Zürich aus einer anderen Perspektive zu erleben, kannte ich bereits von ON. Ich fand es eine coole Aktion und die Kinder hatten grossen Spass (die 5-jahrige Malea absolvierte die knapp 2,5 km lange Runde allein, der 9-jahrige Yannis lief elf Kilometer für das Naturschutzprojekt «Lewa» in Kenia).
Wie hat sich dein Alltag seit dem Rücktritt verändert? Kommt schon so etwas wie Langeweile auf?
Nein, die Sorge besteht bei mir nicht. Ohnehin wird einem mit drei Kindern in diesem Alter nie langweilig. Aber klar: Mein Trainingsalltag hat sich ziemlich entschleunigt. Als Triathletin trainierte ich drei Mal pro Tag, nun noch einmal – sofern es passt und sonst halt nicht. Das kann auch von 6 bis 7 Uhr morgens oder von 9 bis 10 Uhr abends sein. Es geht ja nur ums Stillen des Bewegungsdrangs, nicht mehr um die Leistung oder eine möglichst schnelle Regeneration.
Selbst fünfstündige Wanderungen mit deinem Vater und ersten Coach sind jetzt wieder möglich…
Genau, die frühere Tradition konnten wir endlich wieder aufleben lassen. Den mehrtägigen Muskelkater nehme ich jetzt auch gerne in Kauf. (lacht) Ich geniesse es wirklich, mehr Zeit zu haben für die Kinder, Familie und Freunde, ohne bereits wieder ans nächste Training denken zu müssen. Daneben stehen verschiedene Sponsorentermine und Gespräche an. Auch mit Reto (Hug – der Ehemann), ohne dessen riesige Unterstützung meine Sportkarriere nicht mit der Familienplanung vereinbar gewesen wäre.
Als Spitzenathletin warst du bekannt dafür, dir hohe Ziele zu setzen. Je grösser die Herausforderung, desto besser. Wie lautet deine nächste sportliche «Challenge»?
Nach Dario Colognas Ankündigung, nach dem Rucktritt einen Marathon laufen zu wollen, haben mich lustigerweise viele darauf angesprochen. Für mich kommt ein solches Projekt im Moment nicht in Frage. Klar, werde ich es vermissen, ein fixes Ziel zu haben, auf das man über längere Zeit hinarbeitet. Aber aktuell geniesse ich es einfach, nach Lust und Laune «abzutrainieren».
In dem Fall führst du keine heimliche «Bucketlist»? Nach dem erfolgreichen Sub8-Projekt letzten Juni wärst du ja durchaus in der Lage, auch auf der Langdistanz die Grenzen zu verschieben.
Der Wechsel auf die Langdistanz war vor zehn Jahren ein Thema. Nach dem Olympiasieg bemühte ich mich um eine Wildcard für Hawaii – leider vergeblich. Eine einfache Qualifikation durch einen Ironman-Sieg wie in meinem Fall in Mexiko 2014 liess das damalige Punktesystem nicht zu. Gleichzeitig realisierte ich bei meinem Premierensieg, dass Ironman nicht das ist, was mich reizt. Mit zwei respektive nachher drei Kindern hatte ich als Langdistanz-Athletin auch zu viele Abstriche bei der Familienzeit machen müssen. Von daher bereue ich nicht, dass ich bis Tokio auf der olympischen Distanz geblieben bin.
Also ein bewusster Entscheid – wie der Rücktritt, den du bereits im Frühjahr angekündigt hast?
Ja, für mich war es der ideale Zeitpunkt, auch wenn mein Trainer (Brett Sutton) meinte, ich sei fitter denn je. Nach meinen fünften Olympischen Spielen winkte das Sub8-Projekt. Im Winter wusste ich, dass 2022 meine letzte Saison werden wurde. Mir war wichtig, den Zeitpunkt des Rucktritts zusammen mit Reto und der Familie bestimmen zu können, also nicht aufgrund einer Verletzung oder weil ich nicht mehr mit den Besten mithalten kann, sondern auf dem Höhepunkt und ohne gesundheitliche Langzeitschaden davonzutragen.
Auf welchen Erfolg bist du am meisten stolz?
Olympiagold 2012 in London hat mein Leben als Sportlerin natürlich verändert. Aber stolzer bin ich eigentlich auf die Silbermedaille in Rio 2016. Die Vorzeichen waren komplett anders: Ich hatte davor die Hand gebrochen, war Titelverteidigerin und Mami – meine Performance als Athletin war damals hoher einzustufen als 2012. Auch mein 6. Platz beim Qualifikationsrennen für Peking 2008 macht mich extrem stolz, wenn man bedenkt, dass ich zuvor wegen Kniebeschwerden über Monate kaum laufen konnte. Überhaupt wurde ich nicht ein einzelnes Rennen oder einen Titel herausstreichen.
Sondern?
Ich sehe die Karriere als Ganzes. Es gibt andere, die Olympiasieger geworden sind, Welt- und Europameisterinnen. Aussergewöhnlich werden meine Erfolge erst vor dem Hintergrund, dass ich auch neben dem Sport einiges aufbauen und bewegen konnte.
Gab es in deiner «Bilderbuch»-Karriere auch schwierige Momente?
Die gibt es in jeder Karriere, erst recht, wenn sie so lange dauert. Bei mir waren es typischerweise die Verletzungen. Als Athletin will man sein Ziel unbedingt erreichen, aber der Weg verläuft nicht immer nach Plan. Damit umzugehen, musste ich erst lernen.
Welche mentalen Strategien hast du angewendet?
Das Wichtigste ist, sich auf das zu fokussieren, was man machen kann und nicht darauf, was man nicht beeinflussen kann. Dieses Mindset hilft mir auch im normalen Leben. Vielleicht hat man hier als Triathletin sogar Vorteile. Kann man beispielsweise nicht laufen, investiert man halt mehr ins Schwimmen, was sich auch wieder positiv auswirkt.
Wie bist du als Triathletin eigentlich zur Leichtathletik gekommen?
Meine Lieblingsdisziplin war schon immer das Laufen. Als Juniorin nahm ich an drei Cross-Europameisterschaften teil. 1999 und 2000 gewann ich Silber, leider wurde ich 2001 an der EM in Thun dann bloss 54. (mitten in den Maturaprüfungen – die Redaktion). Da war ich bereits Mitglied des LCZ (Leichtathletik-Club Zürich). Allerdings trainierte ich selten bis nie im Letzigrund. Zwischen Gymi, Schwimm- und Velotraining war es einfacher, über Mittag rasch eine Laufeinheit auf der benachbarten Bahn abzuspulen. Umso mehr weiss ich die jahrlange Unterstützung des LCZ und des VfG (Verein für Grossveranstaltungen des LCZ) zu schätzen – und das lange vor dem Olympiasieg.
Inwiefern hast du vom LCZ, VfG und Weltklasse Zürich profitiert?
Einerseits durch die Kontakte, die mir vor allem Patrick Magyar ermöglicht hat. Aber auch durch die Wettkämpfe, bei denen ich gerade als junge Athletin hinter die Kulissen blicken durfte. Das fing an mit dem Vorprogramm bei Weltklasse Zürich als Nachwuchsläuferin und ging weiter mit den Cross-Europameisterschaften als Juniorin bis hin zur Marathon-EM 2014 als Aktive. Leichtathletik-Events wie die SVM, SM, Stadtlaufe, etc. brachten mich in der Vorbereitung meiner Triathlon- Rennen stets weiter. Der LCZ hat mich bei diesen Abstechern in die Laufszene wesentlich unterstutzt und ich fühlte mich jederzeit willkommen. Leichtathleten sind anders als Triathleten und es war immer spannend, Teil beider Welten zu sein.
Was kann sich eine Läuferin von dir als Triathletin abschauen?
Ich denke, wir ticken ähnlich, verhalten uns sehr konsequent, was das Training anbelangt. Wir Triathleten sind vielleicht etwas entspannter und vielseitiger unterwegs. Aber ich verstehe jeden Läufer, der den Sinn von Alternativtraining erst sieht, wenn er verletzt ist. Ich wurde auch 240 km laufen, wenn es mein Körper zuliesse. Mehr als 120 Wochenkilometer habe ich aber nie geschafft. Selbst in der Marathon-Vorbereitung auf die EM 2014 bin ich noch geschwommen und Velo gefahren.
Als zweitbeste Schweizerin hinter Maja Neuenschwander liefst du bei der Heim-EM in 2:37:12 Stunden auf Rang 24. Mit zwei Cross-EM-Medaillen, 17 SM-Medaillen und diversen SVM-Einsätzen hast du der Leichtathletik einiges zurückgegeben.
Tatsachlich habe ich es immer sehr genossen, zur Leichtathletik zurückzukehren – und sei es nur für ein paar Bahnrennen oder Laufevents im Jahr. An der EM in Zürich wollte ich unbedingt, dass Maja eine Medaille holt und versuchte, sie entsprechend zu unterstützen. Anfang Juni dieses Jahres war es dann sie, die mich beim Sub8-Projekt als Marathon-Pacemakerin über den Lausitzring zog (Nicolas Schlusszeit nach 3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42,195 km Laufen: 7:34:22 Stunden – die Redaktion).
Welche leichtathletischen Disziplinen hätten dich neben dem Laufen auch noch fasziniert?
Da gibt es einige. Stabhochsprung fände ich megacool, ich bezweifle aber, dass ich das Talent dazu gehabt hatte. Weitsprung und Hochsprung habe ich in der Jugi immer gern gemacht. Die Explosivität geht mir allerdings komplett ab. Wenn ich mit unserer Stiftung die Schulen besuche und zum Schluss gegen zwei Kinder pro Klasse über 60 Meter antrete, verliere ich jedes Mal. (lacht)
Und trotzdem wurdest du 2012 in einem «epischen» Zielsprint Olympiasiegerin im Triathlon.
Ja, innerhalb des Triathlons, wo die langsamen Muskelfasertypen dominieren, war ich immer eine der schnellsten «Langsam-Sprinterinnen».
Mit dem Kids Triathlon inspirierst du den Nachwuchs auch in Zukunft zum Schwimmen, Radfahren und Laufen. Wer hat dich vor deinen ersten Olympischen Spielen 2004 inspiriert?
Ein Vorbild als solches hatte ich nicht, aber ich schaute zu vielen Sportlerinnen hoch, bei denen ich verschiedene Aspekte bewundert habe. Dazu gehörte auch eine Anita Weyermann (unter anderem Cross-Europameister und Schweizer Sportlerin des Jahres 1999 – die Redaktion). Mit ihr zusammen am selben Anlass eine Medaille zu gewinnen und hautnah zu beobachten, was ein EM-Titel bei der Elite auslösen kann, war sehr spannend und hat mir in meiner späteren Entwicklung sicherlich geholfen.
Farewell, Nicola!
Die fünffache Olympiateilnehmerin Nicola Spirig hat als Sportlerin praktisch alles erreicht und dabei – als dreifache Mutter – die Grenzen wie keine andere verschoben: Olympia-Gold 2012 in London, Olympia-Silber 2016 in Rio, drei Olympia-Diplome 2008 in Peking (6.) und 2021 in Tokio (6./7.), sechs EM-Titel über die olympische Distanz (2009-2018), WM-Silber und -Gold im Einzel und Team (2010), Ironman-Sieg (2014), Gold an den European Games (2015) und der Mitteldistanz-EM (2021) sowie mit 7:34:22 Stunden die zweitschnellste je absolvierte Langdistanz im Rahmen des Sub8-Projekts der Pho3nix Foundation (2022).
Quasi im «Vorbeilaufen» gewann die LCZ-Athletin zwei Mal Cross-EM-Silber bei den Juniorinnen (1999/2000) und 17 SM-Medaillen (2009-2022) – darunter sieben nationale Titel über 3000 m (indoor), 5000 m (2009/12/14), 10 000 m, 10 km und im Langcross. An den Leichtathletik-Europameisterschaften 2014 in Zürich erreichte die Zürcher Unterländerin nach einem beherzten Rennen den 24. Rang und stellte sich auch an den Vereinsmeisterschaften unzählige Male in den Dienst des LCZ, dessen Ehrenmitgliedschaft sie 2013 verliehen bekam.
Die Ausnahmekarriere der Schweizer Sportlerin des Jahres 2012 ist noch «aussergewöhnlicher», als Nicola Spirig neben ihren drei trainingsintensiven Sportarten (Schwimmen, Radfahren, Laufen) 2010 ein Jura-Studium abschloss, gemeinsam mit Ehemann Reto Hug ab 2013 eine Familie mit drei Kindern gegründet und eine eigene Stiftung samt Nachwuchs-Wettkampfserie ins Leben gerufen hat. Durch den Pho3nix Kids Triathlon by Nicola Spirig und die Schulprojekte der Pho3nix Foundation wird das Ehrenmitglied des Vereins für Grossveranstaltungen (VfG) auch über ihre Laufbahn hinaus eng mit dem Sport verbunden bleiben.
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